Das Buch und seine Geschichten...

Über Hunde und Menschen und die Macht der Liebe

 

Bluebird

 

Die Legende vom blauen Vogel

 

Die Legende erzählt, dass der Blaue Vogel eine Verkörperung des Glücks ist, das nah oder fern sein und das jedes Geschöpf auf der Welt finden kann, wenn es fähig ist, dieses Glück zu erkennen…

 

Also ist der „Blaue Vogel“ ein Symbol für das Glück, so wie die „Blaue Blume“ als Sinnbild für Sehnsucht und Liebe steht,  - aber dann, behaupte ich jetzt einfach mal ketzerisch -  kann der blaue Vogel auch ein blauer Hund sein. Theoretisch.

Theoretisch könnte er alles sein, sofern er blau ist.

Einen blauen Vogel habe ich nie gesehen – (ausgenommen arme, eingesperrte Wellensittiche, aber die sind mit Sicherheit nicht gemeint) -  doch einen blauen Hund durfte ich kennen lernen.

Obwohl - das kleine Jammergestell des Welpen der mich da, im September 2006, vom Bildschirm anblickte sah nach nichts weniger aus als nach Glück.

 

Aber er war blau.

Er war zumindest überwiegend blau – der Bauch bis zum mageren Hals, der einen Kopf zu tragen hatte, der eindeutig zu schwer für ihn zu sein schien; die Läufe bis hin zu den riesigen Pfoten, die zwar zum Kopf, aber nicht zum übrigen Körper passen wollten; die Ohren, die, im besten Zustand offenbar Flugtauglichkeit zu signalisieren vor hatten, aber zurzeit kläglich abgeknickt waren – und auch die Augen, die alarmierend hellblau und milchig blickten; der Welpe schien, zu allem anderen Ungemach, auch noch  blind zu sein. Es war keine Frage was Mira, die Mitarbeiterin im neuen Sofioter Tierheim „Nadeshda“ – ehemals Tötungsstation Losenetz – veranlasst hatte sich dieses Bündel unter den Arm zu klemmen und aus Seslavci herauszuholen. Aus Seslavci, dem Nachfolgeisolator in der Region Sofia – viel größer, für viel mehr Tiere ausgelegt -  und sehr viel weiter außerhalb der Stadt, was es den Bürgern ziemlich erschwerte sich nach ihren verschwundenen Straßen- und oftmals auch Haushunden -  zu erkundigen, um sie innerhalb der vorgesehenen 14 Tage Frist wieder herausholen zu können.

Welpen wurden fast nie herausgeholt – es waren viel zu viele…

 

Dieser Welpe hatte sich Mira buchstäblich in die Arme geworfen, offenkundig wissend dass hier Rettung nahte – und ebenso offenkundig erfüllt von kapitalem Lebenswillen, der ihn die einzige Chance erkennen und nutzen ließ die er hatte.

 

 

Ich nannte ihn Bluebird.

 

Er war von Demodikose, einer üblen Milbenkrankheit, gezeichnet, die sein Fell fast aufgefressen hatte; sein Immunsystem war schwer angeschlagen und er war so schwach und abgemagert, dass er sich kaum auf den Beinen halten konnte und die ersten Tage in einem Käfig verbringen musste, in dem er vor Rempeleien anderer Hunde sicher war.

Und er war höchstens zwei Monate alt.

Der Doktor beäugte ihn skeptisch, verabreichte ihm eine Injektion, verordnete eingeweichtes Welpenfutter und verbannte ansonsten jegliche Euphorie – ja auch nur jeden Optimismus – in den Bereich des Wunschdenkens. Vermutlich würde der kleine Bursche nicht einmal die Nacht überleben.

Am nächsten Morgen lebte er immer noch und begrüßte die Mitarbeiter mit zaghaftem Wedeln und einem umgestürzten Futternapf, der allerdings nur unzulänglich geleert war. Er schien nicht sonderlich hungrig zu sein und der Doktor sah daraufhin auch keinen übertriebenen Anlass seine Prognose nach oben hin zu korrigieren.

Am übernächsten Morgen hatte er sein Futter restlos verputzt und sah aus, als würde er Nachschub begrüßen – und er schien eisern entschlossen zu sein sowohl in seinen großen Kopf als auch in seine riesigen Pfoten hineinwachsen zu wollen.

 

Der Doktor verabreichte ihm stirnrunzelnd eine weitere Injektion und schmierte ihn mit der blauen Tinktur ein, um den Milben nunmehr auch äußerlich den Garaus zu machen – zum Baden war er noch zu anfällig. 

 

Er kämpfte sich Tag für Tag ins Leben zurück – in ein Leben das ja gerade erst in den Straßen Sofias begonnen hatte und in den dunklen Höhlen eines Isolators geendet  wäre, hätte er nicht dieses kleine Zipfelchen Glück, das in seine Richtung geweht war, erkannt und danach geschnappt – und es ingrimmig festgehalten.

Nach wenigen Tagen konnte er den Käfig verlassen und in einen gefliesten Zwinger umziehen, um dort weiter zu wachsen. Längst hatte der Doktor das Stirnrunzeln eingestellt, da dieser Welpe es offensichtlich ablehnte seiner ärztlichen Negativeinschätzung Folge zu leisten – inklusive der milchigen Augen, die sich mittlerweile konstant dunkel färbten.

 

Er verbrachte den Winter im Haus, teilweise im Zwinger, aber auch in den Gängen und Wirtschaftsräumen herumstromernd, vor allem dann, wenn Zdravka Dienst schob – was sie eigentlich immer tat, da sie auf dem Tierheimgelände in einem ausgedienten Container hauste.

(Diese Heimstatt war als ein erheblicher Fortschritt zu dem Quartier anzusehen, das sie vorher bewohnt hatte – nämlich einem Erdloch, in das wirtschaftliche Katastrophen sie hinein katapultiert hatten, bis Dimitrov von ihr hörte und ihr eine Stellung sowie ein Dach über dem Kopf anbot. Zdravka ist vor zwei Jahren verstorben und hat nicht mehr mit erleben müssen, dass das Tierheim, dass ihr eine Heimat und wirtschaftliche Sicherheit  gegeben hatte, aufgelöst wurde...)

 

Im Frühjahr 2007 kam er in den Außenauslauf und dort lernte ich ihn kennen.

„Nadeshda“, (Hoffnung) wie der ehemalige Isolator Losenetz nun hieß, einst Endstation für über 200.000 Hunde die dort in 14 Jahren getötet worden waren, wurde im Mai seiner neuen Bestimmung übergeben – in Anwesenheit des damaligen Oberbürgermeisters Borisov (zwischenzeitlicher Ministerpräsident, den ich um sein Amt weiß Gott nicht beneidet habe), eines Priesters, der die bösen Geister endgültig von dort vertreiben sollte, und etlicher weiterer Honoratioren, von denen vermutlich die meisten vor den jahrelangen Massakern (bestenfalls) den Blick abgewendet hatten und die nun die Fähnlein in einen neuen Wind hängten. Jedenfalls war es ein gelungenes Fest, das allerdings nicht dazu führte dass ein paar Hunde adoptiert wurden.

 

Ich kam erst als schon wieder Ruhe herrschte – abgesehen von der ausschweifenden Kommunikationsfreude der annähernd 150 Hunde, die lärmend in den Ausläufen herum sprangen.  

 

Bluebird war auffällig – vor allem auffällig groß, obwohl nicht einmal ausgewachsen. Und ausgesprochen imposant, denn offenbar beabsichtigte er sich mit nichts weniger als Doggenformat zufrieden zu geben. Sein Kopf und seine Pfoten hatten zu einem akzeptablen Gleichgewicht mit seinen übrigen Körperteilen gefunden und die Ohren standen kühn aufrecht. Wie so viele große Hunde war er die Sanftmut in Person. Raufereien unternahm er nur spielerisch und sie wurden ihm größtenteils von den Damen seines Rudels angeboten, um nicht zu sagen aufgedrängt. An Zweibeinern war er mehr als interessiert und folgte Besuchern auf Schritt und Tritt – offenkundig in der Absicht sie von seinen unbestreitbaren Vorzügen überzeugen zu wollen. Um einer liebevollen Annäherung standhalten zu können brauchte man allerdings die Stabilität eines Gebirgsmassivs - er brachte mittlerweile ein respektables Gewicht auf die Waage und maß aufgerichtet schlappe 1,55 Meter.

Und er konnte lachen…

Die Aussichten ihn in seinem Heimatland vermitteln zu können waren wenig hoffnungsvoll; Tierfreunde verirrten sich nur dann in die Station wenn sie Findlinge abliefern wollten, aber äußerst selten um sich einen Vierbeiner zuzulegen – und wenn, dann keinen mit seinen olympischen Ausmaßen, da  diese nicht eben das geeignete Format für eine kleine Sofioter Etagenwohnung hatten; aber außerhalb der Stadt, in den ländlichen Vororten, hätte ihn allenfalls ein Kettendasein erwartet – oder Schlimmeres.

 

 

Die Alternative? Für diesen Goliath ein Heim in Deutschland zu finden war zwar eine denkbare Möglichkeit, aber zum einen fanden große Hunde auch dort nicht eben reißenden Absatz– und zum anderen hätte schon allein sein Gewicht die Kosten für seinen Transport explodieren lassen.

Und außerdem – es ging ihm ja gut. Diese Station „Hoffnung“ war sein Zuhause und ein anderes kannte er nicht; hier gab es weder Gefahren noch Mangel, dafür jede Menge Spielgefährten… aber sein Horizont endete am Zaun seines Auslaufes, in dem es durch unablässige Neuzugänge immer enger wurde – und er unterdessen immer größer.

Ungeachtet des kläglichen Starts mit dem sein Dasein begonnen hatte, war er kräftig und gesund und niemals krank; das Rudel in dem er lebte, erzog ihn hervorragend und lehrte ihn alles was ein guter Hund wissen muss, um in der Welt bestehen zu können – aber die Welt war da draußen, hinter den Mauern der kleinen Station in der sich sein Leben abspielte, begrenzt auf diesen engen Raum.

 

Ich sah ihn und bedauerte ihn, weil es sein Schicksal zu sein schien, seine Kraft, seine Lebensfreude, seine Schönheit und Sanftmut, kurz, all seine wunderbaren Eigenschaften einzig an diesem winzigen, begrenzten Ort ausleben zu können – denn ich bezweifelte sehr, dass er jemals die Chance bekommen würde ihn zu verlassen.

 

Eigentlich hätte ich es besser wissen sollen. Ich hatte ihm schließlich diesen Namen gegeben und das Schicksal, dieses launische Geschöpf, hatte ihn ja schon einmal ins Trockene gebracht -  und wenn es auch in den letzten Jahren in Wartestellung gegangen zu sein schien, so gab es doch keinen Grund anzunehmen, dass es ihn vergessen hatte. So denken nur wir kleingläubigen Menschen, die, wenn sie festgestellt haben dass Glück sich weder erzwingen noch festhalten lässt, deprimiert davon ausgehen, dass es sie wohl verlassen habe.

Die wenigsten schaffen es an „ihren“ Blauen Vogel zu glauben - und schon gar nicht daran dass er allgegenwärtig sein könnte…

Natürlich „dachte“ auch der große Hund nicht daran – und „seinen“ Namen kannte er nicht. Zumindest rief ihn niemand so. Zdravka nannte ihn Jacky – was meines Wissens ein Vogelname ist und eher zu einem (blauen) Wellensittich passte als zu diesem kolossalen   Burschen -  aber Bluebird war „sein“ Name, und das Glück, das er schon einmal erkannt und ergriffen hatte, verließ ihn nicht, hatte ihn nie verlassen.

 

Das Schicksal kennt keine Zeit. Oder es wartet immer auf die richtige Zeit, auf den richtigen Augenblick und offenbar auch auf die richtigen Menschen am richtigen Ort.

Bluebirds Schicksal wartete auf die Menschen, die für ihn bestimmt waren – und als sie kamen stand es parat.

Sie fanden ihn auf der Internetseite der db-tierhilfe - und vielleicht erkannten sie dass er ein Glücksbote war; auf jeden Fall wussten sie, dass sie ihn in ihrem Leben haben wollten.

Sie holten ihn selbst aus Sofia ab, am 23. Mai, dem Pfingstsonntag 2010.

 

Niemals geht man so ganz; ein Teil von ihm wird für immer dort sein, wo man sein starkes kleines Leben bewahrt und vier Jahre lang gehütet hatte – und das man nun an die Zukunft übergab, von treuen Händen zu treuen Händen.

Er saß ruhig und vertrauensvoll in der großen Box als er in sein neues Leben aufbrach, um seine Wanderung, die in den Straßen Sofias begonnen hatte, zu vollenden, heimzufinden in sein Zuhause, in sein neues Rudel, und in die Welt, die nun nicht mehr an den Mauern einer kleinen Station endete die Nadeshda hieß.

 

Vielleicht habe ich ihn einst nur wegen seines blauen Bauches „Bluebird“ genannt – es war ja so ziemlich das erste was ich von ihm zu Gesicht bekam. Ich habe damals nicht darüber nachgedacht.

 Aber ich glaube dies ist tatsächlich sein wahrer Name.

Der Name des blauen Vogels, der das Glück auf seinen Flügeln trägt. 

 

Unser Schicksal erwächst aus dem Inneren unserer Seele.

So gesehen gibt es nur wenig »Zufall« in einem Leben.

Peter Lauster

 

 

Update 16.5.2017: 

 

 

Hallo Frau Rodrian,

anbei ein paar Bilder. Indy - (so heißt er seit 7 Jahren) - geht es sehr gut, danke der Nachfrage.

Viele Grüße.

Stefan W.

 

 

 

 

Das ist einfach wunderbar! Er ist nun etwa 11 Jahre alt,  sieht großartig aus - und lacht immer noch!

Ich liebe Happy Ends - und ich werde nicht aufhören können dafür dankbar zu sein, dass er Nadeshda lange vor dem Untergang in ein eigenes Zuhause verlassen konnte!