Kessy war eine Schäferhündin, die meinem Vater gehörte. Er war ein Vater den ich nicht kannte und nur zweimal im Erwachsenenalter gesehen habe. Er war ein verwöhnter Bengel, Mamas Liebling, begabt und gut aussehend, der in der Annahme aufwuchs dass man mit Charme alle Türen öffnen und sich überhaupt alles leisten kann. Als meine Mutter ihn heiratete war sie eine 18 jährige Lady Di, wunderhübsch und naiver als ein Kleinkind, die sich etwas darauf einbildete den Hahn im Korb abgestaubt zu haben - der im übrigen bereits eine Ehe hinter sich und einen Sohn gezeugt hatte. Er zeugte noch eine Tochter - mich - und als meine Mutter ihm davonlief  hielt er seine Pflichten diesbezüglich offenbar für erfüllt und verschwand aus meinem Leben. Meinen Bruder sah er wohl öfter, denn der wuchs bei unserer  Großmutter auf.

Mich überließ er der Willkür eines Proleten mit dem Intelligenzquotienten eines Truthahns, dem meine Mutter  bedauerlicherweise nicht davonlief.

Ich sah ihn niemals, bis ich - mit Mitte dreißig - selbst Kontakt aufnahm, aber nicht ausbaute. Ich hielt ihn für einen notorischen Schwätzer, mit dem ich nichts anfangen konnte.

Bis er sich - Anfang des Jahrtausend  - seinerseits in mein Leben drängte.

Wenn auch als Leiche.

 


Kessy geht fort

 

Der Anruf kommt gegen 9.30 Uhr am Freitagmorgen.

Eine freundliche Damenstimme bedauert, mich vom Ableben meines Vaters unterrichten zu müssen, dabei gleichwohl nicht unerwähnt lassend, welche nicht unerhebliche Mühe es gebraucht hat, mich überhaupt -  als mögliches Familienmitglied -  ausfindig zu machen.

„Ich stehe im Einwohnermelderegister!“ behaupte ich, augenblicklich in Verteidigungsstellung.

„Ja, ja“, erwidert sie, „aber in keinem Telefonbuch! Wissen Sie, ich bin die Standesbeamtin und  brauche eine Vollmacht der nächsten Angehörigen um tätig  werden zu können. Gibt es noch weitere Angehörige?“

„Nein“, sage ich langsam, „keinen mehr. Sie sind alle tot, “ und dann setze ich mich hin und hole tief Luft.

Sie sind alle tot.

Ich bin die Vorletzte und offenbar nunmehr das Oberhaupt dieser bezaubernden Familie, die noch vor zwei Generationen durchaus hoffnungsvoll und kinderreich – zumindest von mütterlicher Seite her – angetreten war, sich einen Platz im Pantheon der Unsterblichen zu sichern.

Wie es scheint, haben nur die Nichtsnutze einen Lebensfaden, den durchzuschneiden die Parzen keine Lust verspüren; oder wie erklärt es sich sonst, dass von allen Familienmitgliedern ausgerechnet das schwarze Schaf es geschafft hat, fast neunzig zu werden; oder wie alt?

Ich frage die Standesbeamtin.

„Siebenundachtzig!“ kommt es verblüfft und ich fühle mich schon wieder genötigt eine Erklärung abzugeben.

„Ich kannte ihn nicht“, erläutere ich. „Ich habe ihn zweimal in meinem Leben gesehen und an meinen Geburtstag konnte er sich auch nie erinnern. Und damit das gleich klar ist: ich komme nicht für irgendwelche Beerdigungskosten auf! Es ist mir egal wie er unter die Erde kommt, ich will nichts damit zu tun haben!“

„Gut!“ sagt sie mit unverminderter Freundlichkeit. „Das bedeutet, dass Sie die Erbschaft ausschlagen. Dann seien Sie bitte trotzdem so freundlich, mir eine Vollmacht zu erteilen, damit ich meine Arbeit tun kann.“

Selbstredend bekommt sie ihre Vollmacht; ich tippe sie sofort und faxe sie augenblicklich nach Rügen.

Dann starre ich aus dem Fenster.

Erbschaft.

Er hat mir mal erzählt – bei einer der beiden Begegnungen – ich würde seine künstliche Hüfte erben, die wäre aus irgendeinem Metall – „und unjeheuer wertvoll Kleene, kannste mir glooben, die kriegste, mehr hab ick ja nich’ , du weest ja, is’ ja nie so richtich wat aus mir jeworden, die ham’ mir ja nie wat werden lassen!“

Ach ja.

Wer immer „die“ auch waren – Vater, Mutter, Bruder, Ehefrauen, Staat, Gesellschaft, Krieg –

sie waren jedenfalls alle schuld an seinem verfehlten Leben, das er selbst für ein solches hielt, wofür er sich aber nie verantwortlich fühlte.

Er war für nichts verantwortlich, nicht für sich selbst, nicht für seine Kinder. Er war immer nur ein Opfer.

Denkbar, durchaus denkbar, dass ich deshalb mit solch immenser Wut reagiere, wenn mir mein Kind wieder einmal erzählt, es könne für nichts etwas – dass sei eben passiert – und die anderen haben auch – und eigentlich waren die schuld! Kein zweibeiniges Opfer – Menschenaffen ausgenommen – hat die geringste Chance etwas anderes als Häme und Verachtung von mir zu ernten, so es den Versuch unternimmt jemand anderen als sich selbst für widerfahrene Unbill in die Pflicht zu nehmen – auch dies ist eine Erbschaft und eine die ich nicht ausschlagen kann.

Aber wenigstens, denke ich, hat er sich ja wohl um seinen Hund gekümmert; und damit fällt mir der Hund ein.

Ich rufe die Standesbeamtin an.

„Ja“, sagt sie, „stimmt. Da war ein Hund. Er hat neben dem Toten gelegen und geheult. Aber ich weiß jetzt gar nicht... also das muss ich klären! Ich rufe Sie zurück, sobald ich Näheres weiß!“

Er hat neben dem Toten gelegen und geheult.

Mir ist plötzlich sehr kalt.

Er hat neben dem Toten gelegen und geheult, einsame, verlassene, verängstigte Seele.

Und kein Verstand, der ihm erklären könnte, was geschehen ist, kein Intellekt, der ein Gerüst bietet, Halt gibt. Nur ein Gefühl des Verlassenseins, der Einsamkeit, einer  Bedrohung, die nicht zu verstehen ist.

Wie ein kleines Kind, das Nachts in einem dunklen Zimmer schreit und schreit und schreit, eine sprachlose Kreatur wie der Hund, der kein anderes Werkzeug hat seine Angst kundzutun als sein Heulen, dass niemand versteht.

Und niemand kommt.

 

Ich kann mich erinnern. Nicht an die Situation. Aber an das Gefühl.

 

Die Standesbeamtin ruft zurück.

Der Hund, berichtet sie, sei im Tierheim. In Bergen. Man warte dort auf meinen Anruf.

 

Jawohl, informiert mich die Tierheimleiterin, der Hund sei hier. Es handele sich um ein altes Tier, eine Hündin, gesund wäre sie wohl auch nicht. HD. Hüftdysplasie. Eine Schäferhündin.

„Ist sie nochmals zu vermitteln?“ frage ich zögernd.

Von der anderen Seite kommt ein kurzes unfrohes  Auflachen. „Wir können nicht einmal Hunde vermitteln, die älter als drei Jahre sind“, erklärt sie dann. „Diese Hündin ist mindestens zehn, vermutlich älter. Ausgeschlossen! Was wollen Sie also tun? Wenn sie hier bleibt, kostet es pro Tag zehn Mark Pension!“

Klar, denke ich ergrimmt, und wäre mir der Hund nicht eingefallen, hättet ihr sie auf dem Hals gehabt bis Pflaumenpfingsten und keine Seele hätte je wieder nach ihr gefragt.

Da höre ich im Hintergrund ein lang gezogenes Heulen, klagend und jammervoll, das Entsetzen, wodurch es verursacht wurde, über den leeren Raum zu mir tragend, wie eine Botschaft der Verzweiflung.

„Ist sie das?“ frage ich.

„Ja“, erwidert sie. „Das ist sie. Das ist Kessy.“

 

Eine Stunde später sitze ich im Auto.

Dazwischen habe ich eine Reisetasche gepackt, Katzenwäsche veranstaltet, einen zweiten Espresso hinuntergeschüttet und meine Tochter aus dem Bett geworfen, um ihr mitzuteilen, dass sie bis mindestens morgen Abend die Oberaufsicht über Heim, Herd und Hunde habe.

„Ich muss nach Rügen“, erkläre ich. Sie gähnt mich an. „Weiß ich“, sagt sie. „Hab’s gehört,“ mich damit ein weiteres Mal in Verblüffung setzend über die Selektion zu der ihr Gehör offensichtlich imstande ist, nämlich Gespräche wahrzunehmen, die nicht nur nicht für sie bestimmt sind, sondern auch zwei Räume weiter geführt werden, während Aufforderungen, die laut und deutlich - und möglichst mehrmals – an sie ergehen, gänzlich wirkungslos an diesen phänomenal funktionierenden Ohren vorbeischweben.

 

Die Autobahn ist leer und ich rausche mit ungewohnter und äußerst zweifelhafter Geschwindigkeit über die Piste, sehr genau wissend warum ich so verrückt rase – zumindest für meine Verhältnisse.

Bei 150 Stundenkilometern in einem Kleinwagen bleibt besser kein Platz für nutzlose, unfrohe  Gedanken an eine Kindheit ohne Vater, an eine Familie, so tief gespalten wie das Land in dem ich aufgewachsen bin, an unbegreifliche Entfremdung und unterschwellig glimmenden Hass, der Wunden in eine Kinderseele schlägt, die nie vergessen werden noch heilen können – es ist nicht wünschenswert darüber nachzudenken und gleichzeitig einen schlingernden, weil viel zu schnell fahrenden, LKW zu überholen, während an meinem Heck ein Drängler klebt, der sich offenbar einbildet mich per Lichthupe zum Fliegen veranlassen zu können.

Ich überhole den LKW, wünsche dem Drängler innigst einen Motorschaden und bemühe mich, meine Gedanken auf das dringliche Problem zu fokussieren, was ich mit einer zehnjährigen Schäferhündin anfangen soll, die gerade ihr Zuhause verloren hat und außerdem an HD leidet. Wenn es stimmt, was die Tierheimleiterin sagt, dann hat sie auf Rügen nicht den Schimmer einer Chance jemals wieder aus einem Zwinger herauszukommen – es sei denn ich hole sie heraus.

Ich hole sie heraus und dann?

Das sonnige Gemüt meiner Tochter hätte nur eine Antwort parat, unbehelligt von Vorstellungen wie zu kleiner Wohnung, Berufstätigkeit, bereits vorhandenen zwei Hunden, für die eine vermieterliche Genehmigung vorliegt, die nicht eigenmächtig ausgeweitet werden kann, sowie zusätzlichen Kleinigkeiten, wie Hundesteuern und Tierarztrechnungen, die für sie nur eine höchst periphere Rolle spielen.

Es dürfte sich also nicht empfehlen das Kind um Rat zu ersuchen.

Meine Gedanken schweifen zu Freunden, denen ich unter Umständen einen alten Hund aufhalsen könnte, aber sie finden keinen Ankerplatz. Jeder den ich kenne, der dafür in Frage käme, ist bereits mit einem, meistens mehr Hunden ausgelastet. Was ich brauche ist ein Gnadenhof und abgesehen von der betrüblichen Tatsache, dass ich ohnehin keinen einzigen persönlich kenne, deutet das, was ich über diese Höfe weiß, eher darauf hin, dass sie selbst der Hilfe bedürftig sind, weil die meisten, sowohl finanziell als auch was ihre Kapazität angeht, überwiegend an einem latenten Overkill vorbei lavieren.

Wie es aussieht, werde ich wenig mehr zur Verfügung haben als Hoffen und Wünschen, eine Ressource, die eine unverhoffte Ermunterung erfährt, als ich auf dem Standstreifen den Wagen des Dränglers  sehe, mit geöffneter Motorhaube, aus der es herzerfreuend qualmt.

Fromme Wünsche...

Wenn ich auch leise Zweifel hege, ob es sich hier um einen frommen Wunsch gehandelt hat, so ist er doch unbestreitbar in Erfüllung gegangen, fromm oder unfromm, was meine Stimmung ein paar Grade steigen lässt. Alles wird gut... ich muss es nur wollen und ich muss es mir wünschen...

Und da liegt der Hase im Pfeffer; ich habe keine Ahnung, was ich mir, unwissend um die Gegebenheiten, eigentlich wünschen soll.

Eine Heimstatt für Kessy: mehr fällt mir nicht ein.

Das wird reichen müssen.

Es dämmert schon, als ich die Tierstation Bergen-Tilzow erreiche, weil ich mich selbstredend, trotz ausführlicher Erklärungen seitens geduldiger Passanten, mehrmals verfahre, bis ich endlich das kaputte Schild entdecke, dass mich darauf hinweist, dass sich das Tierheim quasi hinter der nächsten Ecke befindet, was meinen ächzenden Stoßdämpfern lediglich noch ein paar kleinere Krater zumutet, bis ich endlich vor dem Tor stehe und mit steifen Gelenken aussteige.

Die Lage ist schön; würziger Tannenduft umfächelt meine Nase, der sogar schon einen schwachen Hauch von Frühling ahnen lässt und für ein Tierheim ist es hier erstaunlich ruhig. Ich kenne Tierheime nur erfüllt von Begrüßungsgekläff und überhaupt sehe ich bislang nur einen Zwinger, besetzt von einem Schäferhund.

Schäferhund?

Wenn das Kessy ist, dann ist sie in durchaus passablem Zustand, jedenfalls soweit ich sehen kann und dann sollte es eigentlich keine allzu großen Probleme geben, neue Besitzer für sie zu finden; wenn nicht hier dann eben woanders.

Aber es ist nicht Kessy; es ist ein kleinerer, freundlich und hoffnungsvoll wedelnder Rüde, sicher nicht älter als vier oder fünf Jahre, keinesfalls aber zehn - nein, dass ist sie nicht.

Sie liegt in einem Zwinger, gegenüber einem Flachdachgebäude und sie ist in einer erbärmlichen Verfassung. Sie wiegt mindestens zehn Kilo zuviel, ihr Fell ist zottig, stumpf und ungepflegt und der Gestank der von ihr ausgeht, weht bis zu mir herüber. Ich rufe sie und als sie ihren Namen hört, hebt sie den Kopf, versucht Witterung aufzunehmen und ich erkenne, dass die Augen trübe und nahezu blind sind. Sie stemmt sich hoch, kommt mühselig und offenbar unter Schmerzen auf die Beine, macht ein paar Schritte in meine Richtung, um dann zu erkennen, dass ich nicht derjenige bin, auf den sie wartet. Ich halte ihr ein paar Hundekuchen hin, aber sie will sie nicht, sowenig wie sie mich will. Sie steht zitterig inmitten ihres Zwingers, bewegt den Kopf hin und her wie ein hospitalisierendes Kind und starrt an mir vorbei, mit diesen trüben Augen, die nicht finden was sie suchen, ein Anblick hoffender Verzweiflung und verzweifelter Ratlosigkeit.

Ihre Ratlosigkeit lässt sich durchaus mit der meinen vergleichen, aber ihre Verzweiflung überschwappt mich wie die berühmte Woge auf einem japanischen Holzschnitt und lässt mich ähnlich panisch wie jene Fischer den Kopf zwischen die Schultern ziehen.

Was um Gottes Willen, soll ich, kann ich, mit diesem unglücklichen Geschöpf tun, das mir da überantwortet wurde und dem ich das einzige was es will nicht geben kann?

Hinter mir taucht eine schlanke Dame mittleren Alters auf, die sich knapp als die Tierheimleiterin vorstellt und mich ins Büro bittet, mir einen Augenblick Zeit lässt mich zu fassen und mich dann nach meinen Absichten fragt.

„Ich weiß nicht“, sage ich. „ Ich habe nicht die geringste Ahnung. Ich weiß nicht mal, ob das Tier den Transport nach Berlin überleben würde und wenn, dann wüsste ich nicht wohin mit ihr. Alles was ich mir als vage Möglichkeit überlegt habe, ist hinfällig, seit ich gesehen habe in welchem Zustand sie ist. Was kann ich denn tun?“

Sie schweigt lange und ich schweige zurück und in unser gemeinsames Schweigen dringt, herzerschütternd und seelenzerreissend, Kessys lang gezogenes Heulen, zu einem schrillen Winseln abebbend und  sich aufs Neue zu stoßweisem Jammern steigernd, das nicht nachlässt, weil auch der Schmerz, der hier sein einziges Ventil findet, nicht aufhören will.

„Was für eine Totenklage“, murmele ich. Mein Gegenüber wirft mir einen kurzen Blick zu, äußert sich aber nicht; wir sehen aus dem Fenster zu Kessy hinüber, die schwankend in ihrem Zwinger steht und nach meinem toten Vater ruft.

„Ich denke, “ sagt sie endlich, „ dass diese Hündin nur eines will und in diesem Leben wird sie das nicht mehr bekommen. Sie ist zu alt um sich noch einmal neu orientieren zu können. Sie hat ihr Leben offenbar in engster Gemeinschaft mit ihrem Herrn zugebracht und sie ist nun nichts mehr als eine vollständig verlorene Seele. Und sie ist krank. Ihre HD hätte längst behandelt werden müssen; ich vermute, dass sie seit Jahren unter immer stärker werdenden Schmerzen gelitten und gelebt hat. Eine Operation hätte angesichts ihres Alters und schlechten Zustandes jetzt kaum noch Aussicht auf Erfolg und die Alternative wären starke Medikamente, unter deren Wirkung sie wenig mehr als vor sich hin dämmern würde. Wäre sie mein Hund, dann würde ich sie erlösen und da hin schicken, wo sie hin will. Aber sie ist Ihr Hund und es ist Ihre Entscheidung.“

Ich will aber keine Entscheidung über Leben und Tod fällen; wer bin ich denn, der liebe Gott?

Und will Kessy denn sterben? Ich glaube nicht. Sie will nur nicht leben ohne ihn, der ihr Dasein bestimmt hat, ihr Himmel war, ihre Zuflucht und einzige Sicherheit, der Boden unter ihren vier Pfoten, der ihr nun weggerissen wurde und sie in einen schier endlosen freien Fall geworfen hat.

Und was heißt hier „mein Hund?“ Sie ist sein Hund und seine Verantwortung und er hat sich ein weiteres Mal auf und davon gemacht, es, wie stets, anderen überlassend seine Pflichten zu tragen; nur diesmal endgültig.

„Frisst sie?“ frage ich.

„Nein“, erwidert sie. „Seit sie hier ist hat sie kein Futter angerührt. Sie trinkt ab und zu, aber auch zu wenig. Ich glaube sie kennt überhaupt kein Hundefutter. Ich vermute, sie wurde mit Hausmannskost ernährt, das würde auch ihr Übergewicht erklären. Aber sie wollte auch keine Kartoffeln und dergleichen, das haben wir versucht. Sie will nicht fressen.“

Ich stehe auf. „Ich kann das jetzt nicht entscheiden“, sage ich. „Ich muss darüber nachdenken. Geben Sie mir Zeit bis morgen.“ Sie nickt kurz und verabschiedet sich, es einer rundlichen Dame, die unversehens auftaucht, überlassend, mich zum Tor zu bringen.

„ Wollen Sie die anderen Tiere sehen?“ fragt sie und ich nicke widerstrebend, weil ich eigentlich nichts weiter will als die nächstbeste Bärenhöhle ansteuern und erst wieder aus ihr heraus zu kommen, wenn des Frühlings blaues Band durch die Lüfte flattert, die Blumen blühen und die Bienchen summen und alle Probleme sich von selbst erledigt haben. Statt dessen werde ich mich auf die Suche nach einem Hotelzimmer machen müssen und dann nicht nur Kessy im Gepäck haben, sondern auch noch mindestens ein halbes Dutzend anderer Schicksale, die mich bittend durch Maschendrahtzäune ansehen und mir wieder einmal aufs Neue klarmachen, zu welcher Spezies ich gehöre.

Die Station  beherbergt etwa 20 Hunde, die meisten davon klein und nicht älter als fünf Jahre.

„Die kleine Maus hier, “ berichtet meine Begleiterin, „hat nichts als Glück gehabt. Kinder haben sie gefunden, auf einer Müllkippe, in einem alten Schrank eingeschlossen. Sie war schon fast verhungert. Hätten die Kinder nicht ... Sie wissen ja, sie hätten auf der Müllkippe gar nicht spielen dürfen, aber ... sie hatte wohl wirklich einen Schutzengel... und der hier, der war im Wald angebunden ... so richtig tief im Wald, Jogger haben ihn gefunden und sie hier lag in einem stillgelegten Betrieb an der Kette, ihre sechs Welpen tot neben ihr und obwohl sie vor Hunger fast verrückt gewesen ist, als man sie gefunden hat ...das waren auch wieder Kinder, stellen Sie sich das bloß vor! Da finden die diese armen Würmchen!...hat sie ihre toten Welpen nicht angerührt... ach wissen Sie, wie kann man noch von Menschlichkeit reden, wenn man so etwas erlebt! Da liest man in der Zeitung, dass eine Mutter ihre kleinen Kinder  verhungern und verdursten lässt und sich einfach davon macht und entschuldigt das damit, dass sie eine schlechte Kindheit hatte und unter Stress stand, aber diese arme Seele hier hätte für ihre Babys gesorgt, wenn sie nur gekonnt hätte! Der kleine Kerl da hat einen gebrochenen Kiefer, darum sieht er so schief aus, man muss auf ihn eingeprügelt haben und die anderen sind einfach abgegeben worden, weil man sie nicht mehr haben wollte. Es gibt sogar Leute, die kommen her und wollen ihre alten Hunde gegen Welpen umtauschen! Wir nehmen dann die alten Hunde und werfen die Leute hinaus, aber die Hunde sind dann hier und ein neues Zuhause finden die wenigsten...ach wissen Sie, es ist wirklich nicht leicht, wirklich nicht!“

Wo bin ich hier?

In Deutschland?

Wir haben eines der besten Tierschutzgesetze der Welt und dennoch könnte ich ebenso gut in Spanien, Griechenland, Rumänien oder Russland stehen, oder in irgendeinem anderen Land dieser Erde, wo nicht einmal ein vergleichbares Wort für Tierschutz existiert, von den Gebieten in denen Kriege, Aufstände und damit einhergehende Hungersnöte herrschen gar nicht zu reden; wo Menschen in einem Elend leben, das sie sicher für das Leid der Vierbeiner nicht empfänglich sein lässt.

Aber ich bin hier, in Deutschland, noch immer eines der reichsten Länder der Welt, wo es Hunderte von Tierheimen gibt und Tausende von verlassenen Tieren, die nicht etwa aus persönlicher Not verstoßen werden, sondern weil sie zu Wohlstandsmüll geworden sind.

Ich bin hier, in Rügen, eine Urlaubsperle in der Ostsee, Deutschlands Highlight an landschaftlicher Schönheit und Idylle, nebst dazugehörenden Besucherrekorden und ich könnte ebenso gut an Bulgariens Goldstrand stehen; mein Entsetzen wäre nicht größer.

Der Abschied von der freundlichen Dame fällt befremdlich abrupt aus, weil mein Drang wegzulaufen übermächtig wird.

Ich flüchte an dem kleinen Schäferhund vorbei, der mich hoffnungsvoll ansieht und dem ich nicht helfen kann, so wenig wie den anderen, die ich hinter mir zurücklasse, Kessy eingeschlossen.

Ein vages Verständnis für die Weglauftendenzen meines Vaters flackert auf und wird augenblicklich niedergemacht von unbändiger Wut, darüber, dass ich es ihm nicht gleichtun kann, nicht einmal wissend warum ich es nicht kann. Was hat mich eigentlich geritten überhaupt hierher zu kommen und meine dumme Nase wieder in Angelegenheiten zu stecken die mich absolut nichts angehen?

Ich schlage die „Erbschaft“ aus und der Hund gehört dazu; so einfach hätte das sein können, zumal den amtlichen Stellen die Existenz des Tieres gänzlich entgangen war – und zwar aufgrund der Existenz eines Tierheimes, das zwar von staatlicher Seite keine Unterstützung erfährt, aber offenbar verpflichtet ist, sich des Lebendmülles anzunehmen, was sowohl für die Müllverursacher als auch die staatlichen Stellen überaus bequem ist -

 - und es hätte kein Hahn mehr nach Kessy gekräht, sowenig wie nach ihrem Besitzer selig; und über kurz oder lang hätte sie ausgeheult und alles wäre in den Treibsand der Vergessenheit geraten.

 

Aber ich, ich musste nach ihr krähen, dumme Henne die ich bin, als wäre mein Leben so frei von Problemen, dass ich mir unbedingt eines aufhalsen muss! 

 

Das nutzlose und in keiner Weise befreiende Wüten gegen mich selbst führt zu nichts anderem, als dass ich mich binnen einer halben Stunde restlos verfahre und mir zähneknirschend eingestehen muss keine Ahnung zu haben, wo auf dieser gottverdammten Insel ich mich befinde. Es ist zappeduster, ich fahre auf einer Landstraße, die nirgendwo hin zu führen scheint, als in weitere, endlose Dunkelheit und links und rechts ist auch nichts anderes zu sehen als schwärzeste Gegend, davon aber reichlich.

„ ...und wenn Sie nicht weiter wissen, dann fragen uns einfach; wir stehen Ihnen jederzeit und gern zur ...“ (Broschüre des Fremdenverkehrsamtes)

Nur ist hier niemand der zu befragen wäre, vom Erlkönig einmal abgesehen, also fahre ich weiter und weiter, bis die Straße zu Ende ist. Links geht es in einen wenig beruhigend aussehenden Feldweg, vor mir liegt eine riesige schwarze Fläche, die mir mitteilt, dass ich mich nach allerhöchstens drei weiteren Metern in der Ostsee wieder finden werde.

 

Und rechts erklärt ein Schild, mit entsprechendem Pfeil versehen, dass es mich nach 5 Kilometern in die Stadt Binz verschlagen wird, was nun wahrlich der letzte Ort ist wo ich hin will.

 

 

In Binz hat er gelebt, nahezu dreißig Jahre lang und dort habe ich ihn besucht, damals, vor etwa zehn Jahren, mit meinem vierjährigen Kind, hoffend, wenn schon keinen Vater, so doch vielleicht wenigstens einen Opa zu finden, oder so etwas wie Wurzeln, Hinweise darauf, woher wir kommen, wer vor uns war, um uns vorstellen zu können, wer nach uns sein wird, dass jemand nach uns sein kann. Dass es so etwas wie einen Lauf des Lebens gibt, den eine Vierjährige sich vorstellen kann.

Daher komme ich. Und dahin gehe ich.

Aber da waren nur Luftwurzeln. Ein alter Mann, voller Hass und Verbitterung, der kaum einen Blick für das kleine Mädchen übrig hatte – von gelegentlichen „ach, du kleines Püppelchen!“ einmal abgesehen – der nur seiner, ihm nahezu unbekannten Tochter, die Ohren volltuten wollte, über die Ungerechtigkeit des Daseins an sich und des seinigen im Speziellen.

Er sah mich nicht. Und er sah auch das Kind nicht.

Über das erste hätte ich wohl hinweggehen können. Das war ich ja schließlich gewöhnt; und mit nahezu vierzig Jahren ist man eines Vaters wohl auch nicht mehr allzu sehr bedürftig. Aber dass er mein Kind nicht beachtete nahm ich übel, so sehr, dass ich abreiste und restlos mit ihm fertig war. Der Kontakt rutschte dahin, wo er immer gewesen war, ins Nichts.

Als dann doch wieder ein Brief von ihm kam, enthielt er eine Geldforderung und die Mitteilung, dass nur Gott allein wisse, wie sehr er mich immer geliebt habe. In der Annahme, dass nicht einmal Gott es wusste, schickte ich weitere Briefe ungelesen zurück und damit hatte es sich dann.

Bis heute.

 

Ich werde nicht an seinem Grab stehen und ich will auch den Ort nicht betreten, an dem er gelebt hat, aber genau dahin führt mich jetzt diese Straße, der ich wohl oder übel folgen muss, wenn ich die Nacht nicht auf der Landstraße verbringen will.

Es ist Februar, es ist 20.30 Uhr und Binz liegt im Winterschlaf, als ich eintreffe. Nach einigen Runden lustig im Kreis herum steuere ich fluchend das nächst verfügbare kleinere Hotel an, denn preisgünstige Pensionen scheinen absolut unauffindbar zu sein. Das hauseigene Restaurant hat bereits geschlossen, aber der Rezeptionsmanager verweist mich auf einige Pubs an der Strandpromenade, unweit von hier. Also mache ich mich auf den Weg, marschiere schnurstracks in die mir gewiesene Straße hinein, um nach fünf Metern wie vom Donner gerührt stehen zu bleiben, als ich des Straßenschildes ansichtig werde.

 

Putbuser Straße.

Da hat er gewohnt. Genau hier, in einem dieser weißen Häuser, mit den Zuckerbäckerfronten und der verfallenen Grandezza der Kaiserzeit, als noch das Großbürgertum hier in stilvollem Ambiente zur Sommerfrische weilte.

Im Sozialismus wurden die alten Villen dann der werktätigen Bevölkerung zugänglich gemacht, das heißt, in einzelne Wohneinheiten aufgeteilt und zu Spottpreisen – jedenfalls nach westlichem Standard – vermietet.

Heute?

Heute hat offenbar die Schickeria hier Einzug gehalten, inklusive Arztpraxen, Versicherungs-  und Immobilienbüros, den Schildern nach zu urteilen die in den gepflegten Vorgärtchen stehen.

War es dieses Haus? Oder dieses?

Sie sehen sich alle so ähnlich, mit ihren Erkerchen und Wintergärten; sie sehen nur jetzt so unglaublich aufgeputzt aus; und er hatte ohnehin weder Erkerchen noch Wintergarten. Er hatte das, was ich polemisch eine Wohntoilette mit Kochnische nannte, wobei sich die Toilette tatsächlich eine Treppe tiefer befand. Die Kochmulde lag links neben der Eingangstür, rechts stand so etwas wie ein Kleiderschrank; durch einen Vorhang gelangte man in einen Raum von Segeljollenkajütengröße, Wohn-und Schlafzimmer, gestopft voll gestellt mit Tisch, Sofa, zwei Stühlen, einer Katze und einer Topfpflanze. Auf dem Boden löcheriger Linoleum. In der Ecke stand eine Art Kanonenofen. Im Sozialismus alt zu werden schien  seine Risiken gehabt zu haben; ich jedenfalls konnte mich an keinen Fall in meiner Tätigkeit als Familienhelferin in der kapitalistischen Hölle erinnern, in dem Sozialhilfeempfängern eine derartige Behausung zugemutet worden wäre.

Ich stand in diesem Loch, mein Kind an der Hand; es umklammerte seinen Teddy, schaute großäugig in die Runde und sagte: „Mein armer Opa!“

 

Ich weiß nicht welches Haus es war, in dem er jahrelang gehaust hat, die kleine Sozialrente aufzehrend, die man ihm für seine Tätigkeit als Bademeister an Binzens hellem Strande zugebilligt hatte.

Es spielt auch keine Rolle mehr, weil schon kurz nach der Wende die alten Häuser saniert wurden. Die letzten Jahre seines Lebens hat er irgendwo auf der Insel verbracht, zusammen mit Kessy, die es damals noch nicht gab.

Und damit ist Kessy wieder da, mein eigentliches, mein vordringliches Problem; an sie muss ich denken, nicht an diesen alten Mann, der jetzt in irgendeinem Kühlhaus liegt und der nie etwas anderes als ein Fremder war, allenfalls eine unbestimmte Hoffnung, die sich nie erfüllte.

Binnen kurzem erreiche ich die Seebrücke, erleichtert sehend, dass sich in der Fußgängerzone nicht nur eine beruhigend große Anzahl an Touristen befindet, sondern auch etliche Restaurants geöffnet sind, um für das leibliche Wohl eben dieser Urlaubsgäste Sorge zu tragen.

Aber noch ist mir nicht nach Licht, Lärm und Labung.

 

Ich muss eine Entscheidung über Leben und Tod eines Mitgeschöpfes fällen... 

...und ich laufe auf die Seebrücke hinaus, immer weiter, bis zum Ende, bis die Schwärze des Himmels mit der des Meeres verschwimmt und die blinkenden Lichter dort oben ihr Äquivalent hier unten finden,  hier die Sterne, dort die Positionslichter vereinzelter Schiffe.

Die Nacht ist nie mein Freund gewesen; es ist mir ungeheuer wenn ich nicht sehen kann, wer an der nächsten Ecke auf mich zukommt, um mich gegebenenfalls auf Flucht oder Verteidigung einstellen zu können. Dennoch gab es immer Orte wo ich mich gänzlich angstfrei selbst durch dunkelste Nacht und dichteste Wälder bewegen konnte, als würde ich mich unsichtbar in einem Vakuum befinden, sehend zwar, aber ungesehen und dadurch sicher.

Hier bin ich wieder in einer solchen Hülle, mehr oder weniger allein mit dem Universum und völlig allein mit der Frage ob Kessy leben kann oder sterben soll. Aber ich finde keine Antwort. Die rationalen Argumente wurden vorgetragen; sie sind richtig und stichhaltig. Sie sind vernünftig ohne herzlos zu sein.

Kessy ist alt und krank. Und sie hat keinen Platz mehr in dieser Welt, an dem sie sein will.

 

Und gerade dieser Gedanke ist es, der mich in seiner Erbarmungslosigkeit vor jeglicher Vernunft zurückbeben lässt.

Keinen Platz mehr in dieser Welt...das trifft auf viele, viel zu viele Wesen in eben dieser Welt zu.

Alt, krank, hilflos, nicht mehr ganz bei Verstand, dahindämmernd in Hospizen und Pflegeheimen;

auf Listen stehend und als gefährliche Rassen gebrandmarkt, lebenslang eingesperrt in einsame, enge Zwinger;

vertrieben aus brennenden Regenwäldern, ohne Lebensraum, ohne Zukunft; 

ausgesetzt und verstoßen, herumirrend auf Rios Straßen, keine Perspektive als die der Kriminalität oder Prostitution;

eingefangen und in Tötungsstationen eingepfercht, ohne Futter oder auch nur Wasser, bis zum Tode, der als Gnade kommt...

...es gibt für sie alle keinen Platz mehr in dieser Welt, keine Gnade, keine Barmherzigkeit und keinen Boden unter ihren Füßen.

Sie sind Treibgut.

Was soll ich nur tun? Was, um Gottes Willen kann ich tun?

Und was will ich tun?

Dieses alte, kranke Tier aus seinem Käfig holen, in mein Auto hieven, 250 Kilometer über die Autobahn fahren, in meine kleine Wohnung bringen, wo bereits zwei Hunde sitzen, die gewöhnt sind, ein paar Stunden allein zu bleiben, was Kessy mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht kann, ganz abgesehen davon, dass sie nicht einmal ohne Hilfe die eine Treppe hochkäme, Tierarztkosten ohne Ende – will ich das? Kann ich das?

Nein. Ganz klar : Nein. Das will ich nicht.

Um das zu wissen brauche ich nicht lange zum Himmel hinaufstarren, dazu ist mein Selbsterhaltungstrieb zu gut entwickelt, ebenso wie mein Bestreben Stresssituationen nach Möglichkeit aus dem Weg zu gehen.

Aber ich will auch nicht der Richter sein, der dieses Urteil fällt, und keinen besseren Grund dafür weiß, als den der Selbstsucht. Und es wird mir so leicht gemacht, einen anderen Grund zu finden, einen der besser klingt, sogar mehr als einen, so ich denn will.

Aber ich brauche nur einen mit dem ich leben kann.

„Warum bürdest du mir diese Last auf?“ frage ich ihn, den ich nie etwas fragen konnte, frage dennoch, mit aller Hoffnungslosigkeit und der verzweifelten Wut des Kindes, das noch immer in mir lebt und sich nicht damit abfinden will, dass es nie Antworten bekommen hat und nun auch keine mehr bekommen wird.

Der Tod löscht alles aus?

Vielleicht.

Vielleicht für den der tot ist.

Ich aber schleppe den Ballast den er mir hinterlassen hat immer weiter auf dem Rücken.

Werde ich ihn auch meinem Kind hinterlassen?

 

 

„Sieh mal, Papa! Ist das der große Wagen?“

Die schützende Hülle zerreißt und lässt die Außenwelt wieder sicht- und hörbar werden. Vater und Sohn stehen in einiger Entfernung und betrachten, gleich mir, den Sternenhimmel.

„Aber sicher“, sagt der Vater. „Ursa Major. Eigentlich der große Bär. Ganz unverkennbar. Wenn du die Deichsel verfolgst kommst du zum Polarstern.

(Nein. Der hängt an der Deichsel des kleinen Wagens)

Der ist ... warte mal... also wenn du ... und dann da lang... früher haben die Seeleute damit navigiert, was natürlich nicht so einfach war, wenn keine Sterne zu sehen waren... und das da sind die Plejaden, das kommt auch aus der griechischen Sage, das waren Damen, die von Zeus verfolgt wurden und deshalb...“

(Das da sind nicht die Plejaden, das da ist der kleine Wagen und die Damen wurden ausnahmsweise nicht von Zeus sondern von Orion verfolgt)

„Und wo ist der Löwe?“

Der Vater findet den Löwen nicht, kann er auch nicht, denn er ist nicht da, wir haben schließlich Februar, aber beide starren angestrengt zum Himmel und fahnden nach dem Mähnentier ohne fündig zu werden.

„Papa, da sind drei Sterne schräg nebeneinander. Was ist das für ein Sternbild?“

Der Papa weiß es nicht genau, aber ich weiß es.

„Das ist der Gürtel des Orion“, sage ich. „ Gehört zum  größten Wintersternbild. Orion. Der Jäger.“

 

Vielleicht habe ich zu leise gesprochen, denn die beiden geben keine Antwort, suchen weiter emsig den Himmel ab, versunken in ihrem gemeinsamen Tun der Erkundung der Sterne. Und wenn auch die meisten Antworten, die der Sohn vom Vater erhält, Kopernikus im Grabe rotieren ließen, so bekommt er aber doch Antworten und  wer verlangt denn schon, dass Väter die Weisheit mit Löffeln gefressen haben, solange sie bemüht sind überhaupt Weisheiten an ihre Nachkommen zu übergeben?

Ich trabe ins Hotel zurück, die Hände in den Taschen vergraben, tunlichst die Putbuser Straße meidend, einer Entscheidung nicht näher als zuvor, und von Vergeben und Vergessen noch sehr viel weiter entfernt.

„Wenigstens um den Hund hat er sich gekümmert“, denke ich wieder und überlege, was ich sonst noch von ihm weiß. Nachdem ich Kessy gesehen habe kann ich nicht einmal mehr den Wunsch hegen, lieber sein Hund gewesen zu sein als seine Tochter – aber immerhin: sie muss ihm etwas bedeutet haben. Er hat sie bei sich behalten und sich geweigert in ein Altersheim umzuziehen, weil er sie nicht hätte mitnehmen können. Hat er sich, zum ersten Mal, für ein anderes Leben verantwortlich gefühlt oder konnte er sie nicht verlassen, weil dies die vollständige, die totale Einsamkeit bedeutet hätte, weil er Menschen verabscheute, nicht mit ihnen zurechtkam? War es der Hund, der für ihn Verantwortung trug, weil er ihn vor dem Abgrund der Isolation bewahrte, oder vielmehr, sie nicht schmerzlich fühlbar werden ließ? Wer kann sich verlassen fühlen, wenn eine Pfote auf sein Knie gelegt wird und braune Augen ewige Gefolgstreue und Liebe versprechen?

„... der Hund bleibt mir im Sturme treu...“ dieser Spruch hing sicherlich irgendwo in seiner elenden kleinen Behausung, die Kessy ebenso sicherlich nicht als elend empfunden haben wird; sie wäre auch unter die Brücken mit ihm gezogen. Ein Hund hat keine andere Wahl, seine Gene determinieren ihn zur Gefolgschaft.

Während ich ziellos durch dunkle Gässchen laufe fällt mir ein anderes Gedicht ein. Ich musste es in der Schule lernen, genauer gesagt, habe ich versucht es zu lernen, aber beim Vortrag brach ich in so jämmerliches Weinen aus, dass meine Lehrerin es schleunigst in der Versenkung verschwinden ließ und nie wieder versuchte darauf zurückzukommen.

Hebbels Gedicht über seinen treuen Freund Pollux.

 

„Schau ich in die tiefste Ferne meiner Kinderzeit hinab,

 

steigt mit Vater und mit Mutter auch ein Hund aus seinem Grab...“

Kastor und Pollux.

Hebbel war Kastor. Und die Kinderzeit, nicht nur gemessen an heutigen Wohlstandsverhältnissen, durch bittere Armut geprägt, war reich durch Pollux, den vierbeinigen Gefährten.

 

„Wie die beiden Dioskuren brachten wir die Tage hin,

einer durch den andern glücklich, jede Stunde ein Gewinn, “

 

Welches Kind, das heute allein vor seinem Spielcomputer sitzt wird dies später einmal sagen können?

 

Pollux wurde verbannt. Er wurde zu groß, er fraß zuviel, die Familie konnte ihn nicht mehr ernähren.

Man brachte ihn, ohne Wissen des Kindes fort, erzählte ihm er sei weggelaufen.

 

„Noch denselben Abend kehrte er zu seinem Freund zurück,

den zerbiss’nen Strick am Halse; doch das war ein kurzes Glück.“

.

Man brachte ihn wieder fort. Diesmal endgültig.

 

„...und ich sah ihn niemals mehr.“

 

Das Herz des Kindes brach, das des Hundes, und auch das meine.

Noch immer kann ich mich dieses Gedichtes nicht  erinnern ohne dass mir die  Tränen kommen, als wäre diese unfassbare, und doch aus der Not geborene, Grausamkeit auch an mir verübt worden.

Und auch damals schon weinte ich des Hundes wegen und ich tue es noch heute.

Dabei hatte ich nie einen Hund. Das äußerste was man mir zugestand waren Goldhamster, die tagsüber schliefen, nachts in quietschenden Laufrädern rannten und spätestens nach zwei Jahren starben, was mich wiederum völlig trostlos machte.

Aber ich wollte immer einen Hund haben.

Diese Liebe haben wir also offenbar gemeinsam gehabt, mein unbekannter Vater und ich.

 

Vor dem Schlafengehen rufe ich mein Kind an, forschend, ob daheim alles in Ordnung ist.

Selbstverständlich ist alles in Ordnung; keine Feuersbrunst, kein Hochwasser und auch kein Erdbeben hat Großziethen heimgesucht. Es brennt zwar überall in der Wohnung Licht, aber der Herd ist immerhin ausgeschaltet; die Heizung wird sie noch herunterdrehen („mach’ es bitte gleich!“), die Hunde waren Gassi und liegen vollgefressen auf dem Bett; die Wohnungstür hat sie sicherlich ordentlich verschlossen, aber sie wird noch mal nachsehen. Der Fernseher läuft. („Mach’ leiser, ich höre es ja bis hier her!“)

Dann will sie wissen, ob ich die Hündin mitbringe.

„Ich weiß nicht“, sage ich leise. „ich hab’ keine Ahnung.“

„Wenn du sie mitbringen würdest wüsstest du das aber!“ stellt sie mit unwiderlegbarer Logik fest. „Also bringst du sie nicht mit. Was willst du mit ihr machen?“

„Das weiß ich auch nicht. Ich fühle mich wie gerädert und denke seit Stunden darüber nach. Hast du eine Vorstellung davon, in welchem Zustand sie ist? Und hast du eine Idee, wo ich sie unterbringen soll?“

„Nein“, erklärt sie. „Aber dir wird schon das Richtige einfallen!“

Seliges Vertrauen in mütterliche Allmacht, das mich sicherlich um einiges mehr aufgebaut hätte, wäre nicht aus dem Fernseher das Ende der Werbepause zu vernehmen gewesen, das in ihren Worten das Bedürfnis erkennen lässt, dieses Gespräch, wenn überhaupt, erst in frühestens einer halben Stunde fortsetzen zu wollen.

Aus dieser Richtung dürften also keine brauchbaren Vorschläge kommen.

Und auch dort sitzt ein Kind, den Fernseher und zwei Hunde als Gesellschaft, statt eines Vaters, der ihm die Sterne zeigt oder mit ihm Karten spielt oder auch nur über das gewagte Spagetti-Top nörgelt und wegen der Fünf in Mathe rügend die Brauen hochzieht

Auch dort Fragen, die vielleicht gestellt aber nicht beantwortet werden.

Alexander Mitscherlich hat wohl sicherlich nicht diese simple Art des Verlassenseins gemeint, als er über die „vaterlose Gesellschaft“ schrieb. Er sprach von Individuen, die sich von ihren „Über-Ich“ Figuren, den Eltern, vorzugsweise den Vätern, als den Trägern der Autorität – (wieso sind dann eigentlich immer die Mütter schuld, wenn’s schief geht?!) – abgewandt hatten, nicht von fahnenflüchtigen Vätern. Und er hatte, selbstredend,  das große Ganze im Auge. Er war einer der Gurus meiner revoltierenden Generation, aber ich glaube nicht, dass ich damals wirklich begriffen hatte, wovon er eigentlich sprach.

Erkenntnis lehrt kein Buch, nur die schmerzliche Erfahrung.

Manchmal.

Mitternacht ist lange vorbei, als mein langes Ringen um Entscheidungsfindung ergebnislos vom Schlaf überrollt wird.

Vielleicht aber war ich auch nur nicht bereit, den Entschluss in meine Träume hineinzulassen.

 

Am nächsten Morgen sitze ich der Tierheimleiterin erneut gegenüber, nachdem ich mich an dem Zwinger des kleinen Schäferhundrüden und auch dem von Kessy, vorbei geschlichen habe.

„Und?“ fragt sie.

„Ich weiß keine andere Lösung, als die, die Sie vorgeschlagen haben“, sage ich, hoffend, dass sie nicht annimmt, ich wolle ihr die Verantwortung in die Schuhe schieben, weil es sich in meinen eigenen Ohren fatal genau danach anhört.

„Das heißt, Sie wollen sie einschläfern lassen?“ fragt sie.

„Ja“, sage ich elend. „Ich weiß nicht, was ich sonst tun könnte.“

Sie nickt. „Tut mir Leid für Sie. Sie nehmen es schwer. Ich denke, es ist auf jeden Fall richtiger, als sie hier ihrem Schicksal zu überlassen.“

(Dieses Schicksal, mit dem ich im Hader liege, seit ich als Kind gelesen hatte, mit welcher Perfidie es den armen Ödipus behandelt hat. Ich habe nie wieder glauben können, dass das Leben fair sei. Soviel zum Nutzen einer humanistischen Bildung.)

Mein Gegenüber telefoniert mit einem Tierarzt.

„Schäferhündin“, sagt sie. „Mindestens zehn Jahre, wahrscheinlich aber um einiges älter. Schwere HD. Fast blind. Verweigert Futteraufnahme. Sehr schlechter Allgemeinzustand. Besitzer verstorben. Die Tochter ist hier. Nein, keine Möglichkeit. Ja, das denke ich auch. Sie kann jetzt kommen? Gut, ich erkläre ihr, wie sie hinkommt.“

Ich starre sie ungläubig an, als mir bewusst wird, was ich gerade gehört habe.

„Der Tierarzt kommt nicht her? Ich muss sie hinbringen?!“

„Der Tierarzt kommt nicht her“, bestätigt sie. „Wir sind auf Rügen, schon vergessen? Wir haben keinen hauseigenen Tierarzt. Wir müssen mit unseren Tieren auch zu ihm fahren. Es ist nicht so weit, ich erkläre es Ihnen.“

In diesem Augenblick bin ich nahe daran aufzuspringen und das Weite zu suchen, mich einfach aus dem Staube zu machen und jedwede Verantwortung den Nornen, den Parzen, den Moiren oder sonst wem zu überlassen; er hat das ja schließlich auch gekonnt und ist zeitlebens damit durchgerutscht, ohne größere Verdauungsbeschwerden zu bekommen!

Und natürlich tue ich es nicht.

Ich habe ja noch den Rest meines Lebens zur Verfügung um darüber nachzudenken, warum mein Über-Ich so ungeheuer mächtig ist, dass es für mindestens zehn entlaufene Väter ausreichen würde, trotz fehlender Sozialisierung in einer „patriarchalisch strukturierten Familie mit greifbarer Autorität“. Offenbar gehöre ich zu den schrillen Typen, die das Kreuz nach Golgatha tragen, sich draufnageln lassen und es anschließend zu Pilatus zurückschleppen um nach weiteren Befehlen zu fragen.

Warum auch immer.

 

Sie holen Kessy aus dem Zwinger und bringen sie, die mühselig aber fügsam folgt, zu meinem Wagen, heben sie, die dazu nicht aus eigener Kraft in der Lage ist, gemeinsam hinein und schließen die Tür hinter ihr, nachdem sie ihr geholfen haben, sich etwas bequem hinzulegen. Dann stehen sie stumm und warten bis ich eingestiegen bin und den Motor angelassen habe; und ich sehe im Rückspiegel dass beide weinen, die Tierheimleiterin und ihre Stellvertreterin, die freundliche Dame, die mir gestern vom Schicksal ihrer kleinen Schützlinge berichtet hat.

 

Der Stachel des Todes kann nicht so schlimm sein wie der des Lebens.

 

Ich verfahre mich nur einmal, folge verbissen der gegebenen Wegbeschreibung, den stillen Hund, dessen Leben zu beenden ich entschieden habe, auf dem Rücksitz.

Die Tierarztpraxis ist ein Flachbau inmitten einer verwilderten Grünfläche.

Ich helfe Kessy aus dem Auto, nehme sie an die Leine und bewege mich auf den Eingang zu. Da scheut sie, bleibt stehen, zieht mich dann, mit unvermuteter Kraft, am Eingang vorbei, zur Wiese hinüber. Ich folge ihr, lasse sie gewähren, weil ich es nicht fertig bringe sie dort hineinzuschleifen, wo sie offensichtlich nicht hin will und weil Gewalt nicht das Letzte sein soll das sie auf dieser Welt erfährt. Und so laufe ich fast eine halbe Stunde mit ihr auf der Wiese herum, wo sie schnuppert und wittert, ihr Geschäft macht und sich dann hinsetzt, den Kopf hebt und die blinden Augen in den fahlen Himmel dieses Wintermorgens richtet. Ich stehe neben ihr und muss  aushalten, dass es keinen neuen Morgen für sie geben wird.

Zumindest nicht hier.

 

Und dann kommt sie einfach mit, folgt mir in die leere Praxis, in der der Tierarzt bereits wartet. Er gibt ihr die vorbereitende Spritze und schickt mich für die nächste halbe Stunde ins Wartezimmer. „Aber Sie können auch gehen, wenn Sie wegmüssen, ich kann sie auch hier in eine Box legen...“

„Nein“, sage ich.

Während sie allmählich wegdämmert und sich schließlich nicht mehr auf den Füßen halten kann, setze ich mich zu ihr auf die Erde, lege ihren Kopf in meinen Schoß und erzähle ihr wo sie nun hingehen wird, versichere ihr, dass er da sein, sie abholen, auf sie warten wird; dass sie wieder jung, springlebendig und fröhlich sein wird, ohne Schmerzen, Verzweiflung und Verlassenheit.

 

Und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid, noch Schmerz wird mehr sein; (Offenbarung Joh. 21,4)

Für sie nicht, aber auch für ihn nicht, der da, vielleicht, auf der anderen Seite, wartet.

 

Als die Tür sich schließlich öffnet und der Tierarzt hereinschaut, rappele ich mich steifbeinig hoch und helfe ihm, das schwere Tier ins Behandlungszimmer zu tragen und dort auf den Tisch zu legen.

„Sie müssen nicht dabei bleiben“, sagt er wieder, offenbar bestrebt mich loszuwerden.

„Doch“, sage ich, „muss ich. Sie hat es nicht verdient allein zu sterben. Sie nicht.“

„Sie merkt es nicht mehr“, sagt er. „Sie weiß nicht, dass Sie da sind.“

„Und woher wissen Sie das?“ frage ich.

Da sagt er nichts mehr.

Ihr schwerer, unförmiger Körper liegt schwach atmend auf dem Metalltisch und lässt keine Bewegung erkennen, als er ihr die letzte Spritze setzt.

Ich halte ihren Kopf, streichle das zottige, ungepflegte Fell und die großen Ohren und denke an die junge, bildschöne Hündin, die sie einmal gewesen sein muss und die sie, so hoffe und wünsche ich, wieder sein wird, wenn sie diesen Weg beendet hat.

Wartet er wirklich auf sie?

Weiß er dass sie kommt?

Und gibt es einen gemeinsamen Himmel?

 

Dann hört sie auf zu atmen, als wäre ein sachter Wind zu völliger Windstille erloschen und ich spüre, dass sie das Ende der Regenbogenbrücke erreicht hat; nur meine bebenden Hände können sie noch nicht loslassen, streicheln weiter, immer weiter über das stumpfe Fell, in das meine Tränen fallen, während ich den Kopf tief über sie beuge, weil der Tierarzt nicht sehen soll dass ich weine, weil ich nicht einmal weiß, warum ich weine und um wen.

Um sie, diese arme, verlassene Seele, die nun ihren letzten Lauf vollendet hat?

Um ihn, der vielleicht auch nie etwas anderes gewesen ist?

Um mich?

 

 

Ich war auch ein verlassenes Kind, Papa.

Zeit meines Lebens.

Wen soll ich nun dafür verantwortlich machen?

 

Schau ich in die tiefste Ferne...

Ich hoffe, er ist da gewesen. Ich hoffe, er ist wenigstens dieses eine Mal treu gewesen und hat sie abgeholt. Ich will daran glauben, weil sie vielleicht das einzige Geschöpf auf der Welt war, das er je geliebt hat.

Und weil sie ganz sicher das einzige Geschöpf auf der Welt war, das ihn je geliebt hat, ohne mehr von ihm zu fordern als er geben konnte.

Oder wollte.

 
Mit den treuen braunen Augen
blickt er wieder auf zu mir,
und er scheint, wie einst, zu mahnen:
Geh' doch nur, ich folge dir!

 

(Schau ich in die tiefste Ferne /dritte Strophe)